Montag, 11. Mai 2015

"Stadtläufer" - von Enrico

"Wach auf, deine Schicht fängt an!" brüllte Paul und trat mit seinem Stiefel gegen das Bett in dem Luk sofort aufschrak.
"Jeden Abend die gleiche Scheiße mit dir." sagte er und setzte sich auf die Couch. Luk sah sich schlaftrunken um und nach all den vergangen Wochen brauchte er immer noch recht lang, um zu kapieren, was los war.
"Können wir das nicht ausfallen lassen? Ich bin so verdammt müde." murmelte er und setzte sich auf die Bettkante. "Am Arsch!" erwiderte Paul. "Ich lauf doch nicht den ganzen Tag durch die Gegend und mach mir Gedanken, damit du schlafen kannst." Paul begann ein Buch zu lesen, das er aus seinem Rucksack genommen hatte.
"Darf ich vorher etwas essen?" Luk rieb sich die Augen. Sein Kopf dröhnte. "Haben wir irgendeine Suppe? Ich weiß nicht, ob ich schon kauen kann." Er steckte sich einen Finger in den Mund und betastete seine vorderen Schneidezähne, die bis zur Hälfte abgebrochen wahren. Als er auf die Bruchstellen tippte, zuckte er zischend zusammen. "Fuck. Ich glaube, an dieser Scheiße werde ich noch sterben."
Paul warf sein Buch aufgeklappt zur Seite. "Okay, jetzt reicht's mir. Ich mach dir ein Angebot." Er deutete drohend mit dem Zeigefinger richtung Luk, der sich langsam die Schläfen massierte. "Du
brauchst heute nicht los, wenn ich meinen Vorschlag von gestern durchziehen kann. Irgendwas muss passieren, sonst entzündet sich der Dreck und ich habe noch eine Leiche zu verbrennen."
"Ich möchte nur nochmals anmerken, dass das deine Schuld war." murmelte Luk mit geschlossenen Augen. "Fang nicht wieder damit an!" fauchte Paul und senkte seinen Blick.
Sie beide hatten trainiert und dabei bekam Luk versehentlich einen Ellenbogen ins Gesicht. Sowas passierte halt bei Sparringskämpfen. Dennoch tat es Paul sehr leid, seinem nun einzigen Freund auf der Welt so etwas anzutun.
Luk saß weiterhin so da, bis er schließlich aufstand. "Haben wir irgendwas zur betäubung?"
Paul hob seinen Blick und sah ihn nachdenklich an.
Luk wusste, dass er sich manchmal wie eine Memme verhielt und eigentlich glücklich sein sollte, einer der wenigen Überlebenden zu sein. Viel glücklicher war er darüber, dass tatsächlich jemand den er schon zur Zeit der Zivilisation kannte, auch überlebt und er ihn getroffen hatte.
"Ich hab letztens eine Morphin-Spritze mit aus dem Krankenhaus mitgehen lassen. Ich glaub' aber, dass die gekühlt gelagert werden muss und ich weiß auch nicht, wie man das Zeug dosiert. Ich will dich nicht damit in's Nirwana schießen, verstehst du?" sagte er und gönnte Luk einen seiner seltenen mitfühlenden Blicke.
Luk seufzte tief. "Ich hol den Whiskey, du holst den Lötzinn..."
Einige Minuten Später trafen sie sich wieder in Luk's Zimmer. "Das wird nicht einfach. Für uns beide nicht." Sagte Paul. "Nimm einen Schluck, spül' deinen Mund damit aus und dann leg dich hin."
Luk nahm einen mittelgroßen Schluck des guten Whiskeys, den sie für schlechte Zeiten aus dem Einkaufszentrum mitgenommen hatten. Er spürte ein Stechen, das bis hoch in seine Augen reichte, öffnete dennoch nicht seinen Mund. Ein Schrei war durch seine verschlossenen Lippen zu höhren. Als er den Alkohol heruntergeschluckt hatte, legte er sich sofort auf die Couch. "Bitte pass auf. Ich will den scheiß nicht auf dem Gaumen haben."
"Ich pass auf." Sagte Paul, während er etwas Zinn auf einem Löffel über einer Kerze erhitzte.
Paul knipste seine Batteriebetriebene Helmlampe an, die er auf dem Kopf trug, um besser in den Mund seines Freundes sehen zu können. Als das Zinn ganz geschmolzen war, tupfte er ein Wattestäbchen hinein und strich es dann zielgenau auf einem der Zähne ab.
Ein gellender Schrei fuhr durch das Zimmer und wahrscheinlich auch die gesamte Umgebung.
Luk setzte sich auf, hielt sich den Mund und sein ganzer Körper verkrampfte sich vor Schmerz. Das stechen in seinem Schädel war so stark, dass er befürchtete, eines seiner Augen würde platzen.
"Leg dich wieder hin, ich muss sehen, ob es geklappt hat." Sagte Paul ruhig und drückte ihn mit einer Hand an der Schulter herunter.
Jammernd und weinend öffnete Luk wieder seinen Mund und entblößte den gut verschlossenen Zahn. Paul schaute mitleidig. "Gut. Nun der andere."
Luk schloss den Mund und schlug sich die Hände vor das Gesicht.
"Ich weiß, dass du weißt, wie sich ein entzündeter Zahn anfühlt. Wäre dir das lieber?"
"Nein." wimmerte Luk nach einigen Momenten und entblößte den wohl erbärmlichsten Gesichtsausdruck, den Paul wohl jemals gesegen hat. Langsam öffnete Luk den Mund, wobei ihm ein weiterer Schwall Tränen aus den zugekniffenen Augen quoll.
Beim zweiten Mal schloss Luk nicht sofort den Mund, damit das Zinn schneller auskühlen konnte, schrie aber dennoch all seine Schmerzen hinaus.
Als Paul sich vergewissert hatte, dass auch der zweite Zahn geschlossen war, legte er seinem Freund die Hand auf die Stirn. "Das hast du gut gemacht." Er lächelte.
Luk blinzelte erschlagen und griff keuchend nach der Whiskeyflasche. Er nippte daran und spülte sich den Mund aus, der von einem verbrannten Geschmack erfüllt war.
"Zumindest liegen die Nerven jetzt wirklich nicht mehr blank." sagte er und quälte sich auch zu einem Lächeln. Paul nahm ihm die Flasche ab und nahm seinerseits einen Schluck. "Willst du 'nen Spiegel? Sieht garnicht mal so schlecht aus."
"Nein. Ich glaube eher Weniger, dass das hier noch jemanden interessiert. Vielleicht können wir irgendwann richtige Zähne drauf modellieren, aber jetzt hab ich erst einmal die Nase voll."
Beide lachten und nahmen noch ein paar Schlücke von der Flasche, dann fand die tägliche Lagebesprechung statt. Luk willigte ein, seine heutige Aufgabe dennoch zu erfüllen, nachdem er ein paar Schmerztabletten genommen hatte. Also spannte er seinen Bogen und steckte die schwarz lackierte Machete in seinen Köcher wie er es immer tat, wenn er zum Einkaufszentrum ging.

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