Montag, 11. Mai 2015

"Abschäu" - von Alex

Die Ruhe vor dem Sturm. Das dachte ich mir, als ich an einem 30. Dezember, ich weiß wirklich nicht mehr welches Jahr es gewesen ist, kurz vor Mitternacht in der kleinen Wohnung an der Hauptstraße am Fenster stand und den Leuten dabei zusah, wie sie sich bereit machten. Raketen wurden in Weinflaschen gesteckt, mit fröstelnden Händen wurden kleine rote Pyroknaller aus den Jackentaschen gefriemelten oder Sektgläser im kleinen Kreise verteilt und die Plastikverschlüsse von den Sektflaschen gelöst. All das taten sie, um so früh wie möglich bereit zu sein für den einen Augenblick. Ich wischte kurz die Scheibe, die von meinem Atem zu beschlagen anfing, mit dem Ärmel sauber und schaute gleichzeitig auf die Uhr an meinem Handgelenk, die bestätigte, was ich sowieso schon wusste. Wenige Sekunden später fingen die Leute wie im Chor an, von 10 herunterzuzählen.

10…9…8…
Das taten sie jedes Jahr. Und jedes Jahr lagen sie sich in den Armen und lachten, als wäre der Sprung des Stundenzeigers auf die Null ein Neuanfang für sie. Als würden 10 Sekunden ihr Leben in einer
Weise verändern, wie es nichts anderes könnte, mal abgesehen davon, das eigene Idol zu treffen, oder einen Hochzeitsstrauß zu fangen.

7…6…5…4…
Jetzt zückten sie die Feuerzeuge. Die etwas ärmeren Kinder mussten sich mit Streichhölzern begnügen, während die kleinen, reichen Kinder die Zippos ihrer Väter entflammten und die Lunten in kleine, hellrote Flammen tauchten. Von einigen Seiten konnte man bereits die ersten Knaller und Farbexplosionen am Himmel erkennen. Irgendwer wollte immer der Erste sein.

3…2…1
Sektkorken flogen quer über die Straße, Böller nebenher und zersprengten in der Luft. Manche Kinder hatten Wunderkerzen und römische Lichter mitgebracht, die nun überall aufleuchteten und die Straßen der ganzen Stadt erhellten.

0
Das wars also. Von überall her hörte man Gegröle und Gelächter. Ein tosender Lärm erfüllte die belebte Nacht und ein Feuerwerk der Extraklasse bot sich dem Auge des Betrachters. Ich guckte ein letztes Mal auf die Straße, dann zog ich behutsam die Vorhänge zu. Sofort wurde der Raum dunkler. Wenn ich ehrlich bin, habe ich nie viel von Silvester gehalten. Zu viele pöbelnde Menschen, die allesamt ihr eigenes, trostloses Leben feiern und dabei so tun, als wären sie die allerbesten Freunde. Widerwärtig. Auf der andern Seite hatte das Fest aber auch seine Vorteile. So war es beispielweise um null Uhr überall so laut, dass es niemanden interessierte, was um sie rum passierte, geschweige denn, was sonst noch zu hören war. Wie oft hatte ich schon gelesen, dass Feuermelder, Babyphone oder Pager überhört wurden, weil der ohrenbetäubende Lärm alles übertönte. Daraus entstand normalerweise viel Leid und Zeitungen hatten tagelang Futter für ihre Titelseiten. Für mich wiederum hatte der Lärm keine Nachteile, nein, ich profitierte von der Abwesenheit der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. Ich streckte meinen Körper, drehte mich um und ging langsam durch den leeren Raum um eine kleine Lampe in der Ecke anzuknipsen. Auf einem kleinen Tisch darunter lag die Tasche, die der Grund für meine Anwesenheit war. Ich zog den Reisverschluss auf und leerte den  Inhalt auf dem Tisch aus. Dann zog ich den Industriekittel an und stülpte mir langsam die Gummihandschuhe über die Hände. Ich drehte mich um und sah ihm direkt in die Augen. Er war schweißüberströmt, sah völlig verwirrt aus und atmete schwer durch die Nase, da sein Mund mit Klebeband überklebt war. Ich lächelte ihn das letzte Mal in seinem Leben an, dann zog ich die Kapuze über, nahm das Messer, das ebenfalls in der Tasche war und ging auf ihn zu.

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