Das Meer rauschte so laut, dass sie nichts anderes hören konnte. Sie starrte auf die kalten, eisblauen Wellen, die mit einem lauten Zischen an den riesigen Holzpfeilern des Piers brachen.
Ein Geräusch, dass einem übersteuerten Mikrofon gleichkam.
Tausend Gedanken sammelten sich in ihrem Kopf und schienen mit jeder gebrochenen Welle durch neue ersetzt zu werden.
Ihr Füße standen an der Kante des von der Sonne vorgewärmten Holzes.
„I.C.A.R.U.S“, war in das Holz eingeritzt. Der Schriftzug prangerte überall. An den kaputten Steinwänden der alten Kaufhäuser, auf den mit Pflanzen überwucherten Gemäuern des Bahnhofs und auch auf den Briefen, die monatelang in ihrem Briefkasten gelandet waren.
Niemand wusste, was es hieß. Keiner ahnte, was dahinter steckte.
Wie konnten sie das auch ahnen. Unwissenheit war Gesetz, Angst war Alltag, Not war Standard.
Bisher hatte sie nie das Gefühl diesen Schritt gehen zu müssen, doch in letzter Zeit wurde es immer schlimmer. Die Angst wurde zum stetigen Begleiter, die Gedanken wollten auch in der Nacht nicht schweigen und die Meldungen von weiteren Todesfällen ließen sie einfach nicht in Ruhe.
Ihr ganzer Körper zittert, als sie das eine Bein nach vorne über den Rand des Piers streckt. Angst
pulsiert durch ihren Körper.
Vielleicht musste sie erst fallen um zu fliegen. Unsicherheit und Überzeugung wechselten sich in ihrem Körper ab, doch sie wusste nicht, was stärker war.
All die Gedanken, die ihren Geist zu überfluten scheinen, die Ampellichter in der Nacht, wenn man eine einsame Straße mit viel zu schnellem Tempo entlang fuhr, stauten sich und sie schien, egal wie viel sie auch nachzudenken schien, nicht zu einem Ergebnis zu kommen.
Nach ein paar weiteren Sekunden trafen ein paar Tropfen Gicht auf ihre Haut. Die Kälte brannte ein wenig, aber sie spürte etwas. Sie spürte das erste mal seit langer Zeit etwas. Eine Welle von Überzeugung schwemmte gegen ihre inneren Barrikaden und der zweiten Fuß folgte dem ersten.
Siel fiel.
Kaltes Wasser schlug ihr entgegen und nahm ihren schwachen Körper in sich auf. Die Gedanken waren das erste mal still. Nichts war zu hören, außer die tausend platzenden Luftblasen um ihren Kopf herum. Erst schien helles Licht unter die Oberfläche, doch je tiefer sie sackte, desto dunkler wurde es.
Wasser füllte ihre Lungen und sie schloss die Augen um sich dem Gefühl endgültig hinzugeben.
Doch kurz bevor der letzte Sauerstoff aus ihren Lungen entwichen war, schoss ihr ein Gedanken durch den Kopf: auch Ikarus versuchte zu fliegen und ertrank anschließend im Meer.
Schnell atmend schlug sie die Augen auf. Ihr Herz raste und sie setzte sich hektisch auf.
"Aber, aber wa-", stotterte sie und schaute sich in dem Raum um. Helle Lichter strahlten sie an.
Ein Mann in weißer Kleidung kam auf sie zu. Elektroden hefteten an ihren Schläfen und sie zog sie panisch ab.
Neben ihr stand ein Computer, auf dem ein Bildschirmschoner lief. Die Worte "Immersive, Crisis, Anxiety, Realistic, Ubiquitous, Simulation" zogen ihre Runden über den Bildschirm.
Der Mann stellte sich neben ihr Bett und schaute sie mit einem Lächeln auf dem Gesicht an.
"Herzlichen Glückwunsch. Sie haben so eben erfolgreich das 'I.C.A.R.U.S' Projekt abgeschlossen".
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